PhotoWeekly 01.04.2020 | Page 22

Praxis PROFI DER WOCHE presented by SIEGFRIED HANSEN Die zweite Ebene Vieldeutig, grafisch, formvollendet – und oft absurd-komisch: Der Street-Fotograf Siegfried Hansen verdichtet den urbanen Raum zu magi- schen Motiven. Seine Werkzeuge: die eigenen Augen und die Vollformat-Kompakte Leica Q2. Text: Peter Schuffelen; Fotos: Siegfried Hansen Eine Straßenszene: Ein kleiner Junge geht über eine Marmor- bank, sein linker Fuß berührt ge- rade noch das steinerne Stadtmö- Die Leica Q2 löst bel, der rechte Fuß schwebt auf das Markenver- gleicher Höhe in der Luft, direkt sprechen von Leica ein, traditionelle über einer im Boden eingelasse- Ingenieurskunst nen Regenrinne, die das prekäre und Innovations- Gleichgewicht dieses Moments geist in absoluter Perfektion zu noch unterstreicht, während der verschmelzen. Junge, als könne er sich auf diese imaginäre Stütze verlassen, sorg- los wie Hanns Guck-in-die-Luft in die Glasfassade zu seiner Seite blickt, in der sich die Gebäude der Großstadt spiegeln. Siegfried Hansen hat diese Aufnahme in Berlin geschossen, einhändig, den Blick auf das Display seiner auf Bauchhöhe schwebenden Leica Q2 ge- richtet. Sprichwörtlich aus dem Bauch heraus ent- standen ist dieses Bild indes nicht. „Ich hatte den Jungen beobachtet und wusste, dass im nächsten Moment etwas Außer­gewöhnliches passieren wür- de“, sagt der Street-Fotograf aus Hamburg. Hansen hat den von Henri Cartier-Bresson apostrophierten „entscheidenden Augenblick“ intuitiv erfasst und dabei, wenn man so will, eins von Cartier-Bressons berühmtesten Bildern paraphrasiert: den Sprung des Mannes von „Behind the Gare St. Lazare“. „Ich arbeite mit visuellen Triggern, auf die ich mich solange konzentriere, bis mir ein Topshot gelingt.“ Subtile Situationskomik, perfekt komponiert: Das ist nur eine Facette von Hansens fotografischer Handschrift. Noch bekannter ist der Street-Fotograf, der vor knapp zwanzig Jahren durch eine Ausstel- lung von André Kertész zu seiner Art des Sehens inspiriert wurde, für sein Gespür dafür, das Chaos der Stadt in radikalen Ausschnitten so zu verdich- ten, dass aus dem Wirrwarr der urbanen Strukturen und Formen zweierlei entsteht: grafische Anmut, die für sich alleine steht und an Werke von Malern wie Malewitsch, Kandinsky oder Mondrian erin- nert. Sowie: ein neuer Sinn, eine bislang ungesehe- ne zweite Bedeutungsebene. Etwa wenn er, wie in einem seiner bekanntesten Bilder, ein weißes, um einen Laternenpfahl gewickeltes Klebeband dank eines präzise gewählten Blickwinkels als Verlänge- rung der Fahrbahnmarkierung ins Bild fasst. Perfekt zusammen finden diese beiden Spielar- ten in einem Bild, das wir auf diesen Seiten zeigen: der Rücken­ansicht eines jungen Street-Art-Künst- lers, der dabei ist, einen Hammerhai auf eine Häu- serwand zu malen. Die Kapuze seines Shirts wirkt wie eine kopfverkehrte Spiegelung des Haikopfs, der halbkreisförmige Spalt, den die unter der auf „halb acht“ sitzenden Jogginghose hervorlugende Unterhose formt, wie ein spiegelverkehrter Wider- hall des Hai­fischmauls: Shot! Wie kommt man bitte zu so einem Bild? Und wie lange muss man auf einen derartigen Augenblick warten, auf eine derart vieldeutige und zugleich hochästhetische Konstellation? „Ich gehe sehr strukturiert vor“, verrät Hansen, der sich auch wäh- rend seiner ­Street-Photography-Workshops in die Karten blicken lässt und Interessierten seine Vor- gehensweise nahebringt. „Ich arbeite mit visuellen Triggern, auf die ich mich so lange konzentriere, bis mir ein Topshot gelingt. Das können Eistüten sein oder Post­pakete, Handschuhe oder kaputte Regen- schirme, aber ­natürlich auch bestimmte grafische Strukturen, die ich fotografisch erst einmal sammle, ohne ein bestimmtes Bild vor Augen zu haben. Wenn dann noch ein unerwarteter Moment hin- zukommt, ein Mensch oder ein Tier, die mit diesen Strukturen auf unvorhergesehene Weise interagie- ren, kann am Ende ein Topshot entstehen.“ „Die 28-mm-Brenn­weite war zunächst gewöhnungs­bedürftig. Sie zwingt mich, meinem Motiv näher zu kommen.“ Natürlich hat das auch viel mit Übung zu tun – und mit Ausdauer. Hansen sammelt, analysiert, wartet auf den richtigen Augenblick, dann drückt er auf den Auslöser. Fast jedes Wochenende zieht er mit seiner Leica Q2 los, fast immer die gleiche Runde, in seiner Heimatstadt Hamburg, wo er samstags auf den Flohmarkt und sonntags zum Fischmarkt geht; in Berlin und in anderen Weltstädten wie Tokio, London, Oslo oder Rom. Das Ortstypische, das „Wo“ ist dabei zurückgenommen, es spielt für seine Art der Weltanschauung, die Neustrukturierung des Raums, keine Rolle. „Wenn ich unterwegs bin, bin ich sehr konzen- triert, aber zugleich sehr relaxt. Ich bin nicht der Jägertyp, ich bin eher ein Sammler, ich erarbeite mir vieles systematisch“, sagt Hansen. Es gehe ihm nicht darum, Foto-Trophäen mit nach Hause zu bringen, das fotografische Flanieren sei für ihn vielmehr eine Form der Meditation. „Wenn ich los- ziehe, komme ich in einen Flow, ich tauche ab, ich muss nicht mehr über andere Sachen nachdenken, ich genieße das total.“ Mehr als fünf Minuten verweile er selten an einem Ort, meist habe er dann ein gutes Bild im Kasten, dann ziehe es ihn weiter, so Hansen. Gerade bei je- nen Bildern, die, neben der ausgefeilten Bildgestal- tung, von der Ästhetik des Zufalls leben, von einer kaum vorhersehbaren Gleichzeitigkeit oder einem plötzlich auftauchenden, repetitiven Element, mag man das kaum glauben. Hansen spricht in diesem Zusammenhang vom „erwarteten Zufall“, von jener Koinzidenz, die entsteht, wenn man fokussiert auf die Welt blickt, stets den Trigger im Visier. „Es ist so, als ob Sie einen Gipsverband haben. Dann sehen Sie auf einmal zig andere Menschen mit Gipsverbänden“, sagt er. Die Leica Q wie auch ihre Nachfolgerin Q2 seien ideal für diese Art der Suche, so Hansen. „Die Leica Q2 ist für meine Art der Fotografie in ihrer Kompaktheit und Schlichtheit das optimale Werkzeug.“ „Früher habe ich mit APS-C-Systemkameras und einem 24-70-mm-Objektiv gearbeitet, die Beschränkung auf die 28-mm-Brennweite war zunächst gewöhnungsbedürftig. Ich muss noch mehr als früher die Füße als Zoom nutzen“, sagt der Fotograf. „Das zwingt mich dazu, meinen Motiven näher zu kommen, der Ausschnitt pas- siert jetzt körperlich. Inzwischen weiß ich genau das zu schätzen. 28 mm, das ist für meine Art der Fotografie die ultimative Brennweite und die Leica Q2 in ihrer Kompaktheit und Schlichtheit das optimale Werkzeug, gerade wenn man auf der Suche nach der zweiten oder dritten Ebene ist.“ Siegfried Hansen ... ist einer der renommiertesten deutschen Street-Fotografen. Er ist Mitglied des Kollektivs UP PHOTOGRAPHERS und hat die Bücher „Hold the Line“ (2015) und „Schlagermove“ (2017) pro- duziert. Seine Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstel- lungen gezeigt, unter anderem in den Deichtorhallen in Hamburg und im Museo di Roma in Trastevere in Rom. 2018 hat er ge- meinsam mit Marco Larousse und Martin U. Waltz das „German Street Photography Festival“ und die Webseite „German Street Photography“ ins Leben gerufen. Weitere Infos: www.siegfried-hansen.de