Praxis
PROFI DER WOCHE
presented by
SIEGFRIED HANSEN
Die zweite Ebene
Vieldeutig, grafisch, formvollendet – und oft
absurd-komisch: Der Street-Fotograf Siegfried
Hansen verdichtet den urbanen Raum zu magi-
schen Motiven. Seine Werkzeuge: die eigenen
Augen und die Vollformat-Kompakte Leica Q2.
Text: Peter Schuffelen; Fotos: Siegfried Hansen
Eine Straßenszene: Ein kleiner
Junge geht über eine Marmor-
bank, sein linker Fuß berührt ge-
rade noch das steinerne Stadtmö-
Die Leica Q2 löst
bel, der rechte Fuß schwebt auf
das Markenver-
gleicher Höhe in der Luft, direkt
sprechen von Leica
ein, traditionelle
über einer im Boden eingelasse-
Ingenieurskunst
nen Regenrinne, die das prekäre
und Innovations-
Gleichgewicht dieses Moments
geist in absoluter
Perfektion zu
noch unterstreicht, während der
verschmelzen.
Junge, als könne er sich auf diese
imaginäre Stütze verlassen, sorg-
los wie Hanns Guck-in-die-Luft in die Glasfassade
zu seiner Seite blickt, in der sich die Gebäude der
Großstadt spiegeln.
Siegfried Hansen hat diese Aufnahme in Berlin
geschossen, einhändig, den Blick auf das Display
seiner auf Bauchhöhe schwebenden Leica Q2 ge-
richtet. Sprichwörtlich aus dem Bauch heraus ent-
standen ist dieses Bild indes nicht. „Ich hatte den
Jungen beobachtet und wusste, dass im nächsten
Moment etwas Außergewöhnliches passieren wür-
de“, sagt der Street-Fotograf aus Hamburg. Hansen
hat den von Henri Cartier-Bresson apostrophierten
„entscheidenden Augenblick“ intuitiv erfasst und
dabei, wenn man so will, eins von Cartier-Bressons
berühmtesten Bildern paraphrasiert: den Sprung
des Mannes von „Behind the Gare St. Lazare“.
„Ich arbeite mit visuellen Triggern,
auf die ich mich solange konzentriere,
bis mir ein Topshot gelingt.“
Subtile Situationskomik, perfekt komponiert: Das
ist nur eine Facette von Hansens fotografischer
Handschrift. Noch bekannter ist der Street-Fotograf,
der vor knapp zwanzig Jahren durch eine Ausstel-
lung von André Kertész zu seiner Art des Sehens
inspiriert wurde, für sein Gespür dafür, das Chaos
der Stadt in radikalen Ausschnitten so zu verdich-
ten, dass aus dem Wirrwarr der urbanen Strukturen
und Formen zweierlei entsteht: grafische Anmut,
die für sich alleine steht und an Werke von Malern
wie Malewitsch, Kandinsky oder Mondrian erin-
nert. Sowie: ein neuer Sinn, eine bislang ungesehe-
ne zweite Bedeutungsebene. Etwa wenn er, wie in
einem seiner bekanntesten Bilder, ein weißes, um
einen Laternenpfahl gewickeltes Klebeband dank
eines präzise gewählten Blickwinkels als Verlänge-
rung der Fahrbahnmarkierung ins Bild fasst.
Perfekt zusammen finden diese beiden Spielar-
ten in einem Bild, das wir auf diesen Seiten zeigen:
der Rückenansicht eines jungen Street-Art-Künst-
lers, der dabei ist, einen Hammerhai auf eine Häu-
serwand zu malen. Die Kapuze seines Shirts wirkt
wie eine kopfverkehrte Spiegelung des Haikopfs,
der halbkreisförmige Spalt, den die unter der auf
„halb acht“ sitzenden Jogginghose hervorlugende
Unterhose formt, wie ein spiegelverkehrter Wider-
hall des Haifischmauls: Shot!
Wie kommt man bitte zu so einem Bild? Und wie
lange muss man auf einen derartigen Augenblick
warten, auf eine derart vieldeutige und zugleich
hochästhetische Konstellation? „Ich gehe sehr
strukturiert vor“, verrät Hansen, der sich auch wäh-
rend seiner Street-Photography-Workshops in die
Karten blicken lässt und Interessierten seine Vor-
gehensweise nahebringt. „Ich arbeite mit visuellen
Triggern, auf die ich mich so lange konzentriere, bis
mir ein Topshot gelingt. Das können Eistüten sein
oder Postpakete, Handschuhe oder kaputte Regen-
schirme, aber natürlich auch bestimmte grafische
Strukturen, die ich fotografisch erst einmal sammle,
ohne ein bestimmtes Bild vor Augen zu haben.
Wenn dann noch ein unerwarteter Moment hin-
zukommt, ein Mensch oder ein Tier, die mit diesen
Strukturen auf unvorhergesehene Weise interagie-
ren, kann am Ende ein Topshot entstehen.“
„Die 28-mm-Brennweite war zunächst
gewöhnungsbedürftig. Sie zwingt mich,
meinem Motiv näher zu kommen.“
Natürlich hat das auch viel mit Übung zu tun – und
mit Ausdauer. Hansen sammelt, analysiert, wartet
auf den richtigen Augenblick, dann drückt er auf
den Auslöser. Fast jedes Wochenende zieht er mit
seiner Leica Q2 los, fast immer die gleiche Runde,
in seiner Heimatstadt Hamburg, wo er samstags auf
den Flohmarkt und sonntags zum Fischmarkt geht;
in Berlin und in anderen Weltstädten wie Tokio,
London, Oslo oder Rom. Das Ortstypische, das „Wo“
ist dabei zurückgenommen, es spielt für seine Art
der Weltanschauung, die Neustrukturierung des
Raums, keine Rolle.
„Wenn ich unterwegs bin, bin ich sehr konzen-
triert, aber zugleich sehr relaxt. Ich bin nicht der
Jägertyp, ich bin eher ein Sammler, ich erarbeite
mir vieles systematisch“, sagt Hansen. Es gehe
ihm nicht darum, Foto-Trophäen mit nach Hause
zu bringen, das fotografische Flanieren sei für ihn
vielmehr eine Form der Meditation. „Wenn ich los-
ziehe, komme ich in einen Flow, ich tauche ab, ich
muss nicht mehr über andere Sachen nachdenken,
ich genieße das total.“
Mehr als fünf Minuten verweile er selten an einem
Ort, meist habe er dann ein gutes Bild im Kasten,
dann ziehe es ihn weiter, so Hansen. Gerade bei je-
nen Bildern, die, neben der ausgefeilten Bildgestal-
tung, von der Ästhetik des Zufalls leben, von einer
kaum vorhersehbaren Gleichzeitigkeit oder einem
plötzlich auftauchenden, repetitiven Element, mag
man das kaum glauben. Hansen spricht in diesem
Zusammenhang vom „erwarteten Zufall“, von jener
Koinzidenz, die entsteht, wenn man fokussiert auf
die Welt blickt, stets den Trigger im Visier. „Es ist so,
als ob Sie einen Gipsverband haben. Dann sehen Sie
auf einmal zig andere Menschen mit Gipsverbänden“,
sagt er. Die Leica Q wie auch ihre Nachfolgerin Q2
seien ideal für diese Art der Suche, so Hansen.
„Die Leica Q2 ist für meine Art der
Fotografie in ihrer Kompaktheit und
Schlichtheit das optimale Werkzeug.“
„Früher habe ich mit APS-C-Systemkameras
und einem 24-70-mm-Objektiv gearbeitet, die
Beschränkung auf die 28-mm-Brennweite war
zunächst gewöhnungsbedürftig. Ich muss noch
mehr als früher die Füße als Zoom nutzen“, sagt
der Fotograf. „Das zwingt mich dazu, meinen
Motiven näher zu kommen, der Ausschnitt pas-
siert jetzt körperlich. Inzwischen weiß ich genau
das zu schätzen. 28 mm, das ist für meine Art
der Fotografie die ultimative Brennweite und die
Leica Q2 in ihrer Kompaktheit und Schlichtheit
das optimale Werkzeug, gerade wenn man auf der
Suche nach der zweiten oder dritten Ebene ist.“
Siegfried Hansen
... ist einer der renommiertesten deutschen Street-Fotografen.
Er ist Mitglied des Kollektivs UP PHOTOGRAPHERS und hat die
Bücher „Hold the Line“ (2015) und „Schlagermove“ (2017) pro-
duziert. Seine Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstel-
lungen gezeigt, unter anderem in den Deichtorhallen in Hamburg
und im Museo di Roma in Trastevere in Rom. 2018 hat er ge-
meinsam mit Marco Larousse und Martin U. Waltz das „German
Street Photography Festival“ und die Webseite „German Street
Photography“ ins Leben gerufen.
Weitere Infos: www.siegfried-hansen.de