Aktuell
EDITORIAL
02
Wolfgang Heinen
& Florian Schuster,
Herausgeber
Wenn Knipserschwärme
vom Knipsen schwärmen
Selfie-Alarm in Kalifornien: Zur rekord-
verdächtig prächtigen Mohnblüte in Ka-
lifornien pilgern zehntausende Instagram-
Jünger. Bewaffnet mit Smartphone und Sel-
fiestick hinterlassen sie ein zertrampeltes
Schlachtfeld. Dieses aktuellste Beispiel
offenbart ein Phänomen fotografischer
Selbstzerstörung. Gib einfach mal den
Hashtag #superbloom bei Google ein: Es
öffnen sich viele hunderttausend orange-
farbener Bilder, die derzeit anlässlich der
ungewöhnlich üppi-
» Es kommen immer gen Blüte des Gold-
mohns südöstlich
mehr Menschen,
von Los Angeles von
um mit immer mehr zehntausenden von
Menschen aufgenom-
Smartphones im-
men und ins Netz ge-
mer mehr Fotos zu
stellt werden. Mit dra-
matischen Folgen: Es
machen. «
kommen immer mehr
Menschen, um mit
immer mehr Smartphones immer mehr Fo-
tos zu machen, die immer mehr Menschen
anlocken ... und so weiter. Bis alles zertram-
pelt ist und/oder die Blüte sich durch natür-
liches Verblühen erledigt hat. Der Bürger-
meister von Lake Elsinore, einer Kleinstadt
direkt am Mohnfeld, hat den Notstand aus-
gerufen. Und damit wird mal wieder klar:
Instagram verändert Orte auf der ganzen
Welt – meistens nicht zum Guten. Die Rue
Cremieux in Paris, der Pragser Wildsee, der
berühmte Felsvorsprung Trolltunga in Nor-
wegen oder Venedig als Ganzes: Die foto-
basierte Plattform lockt Selfieonados wie
frisches Fleisch die blutlüsternen Piranhas.
Was bleibt, sind, um im Bild zu bleiben, ab-
geknabberte, blanke Knochen.
Wenn Knipserschwärme vom Knipsen
schwärmen, dann tritt ein ganz besonderes
Phänomen zu Tage: Man nehme ein im wei-
testen Wortsinn „schönes“ Motiv, mache ein
paar Bilder und stelle
» Das Phänomen
sie auf Instagram. Ok,
in den meisten Fällen
ist, von der Bildsei- passiert nicht viel, in
te her gesehen, die
dem ein oder anderen
Fall, wie jetzt mit den
aktuell stärkste
Mohn-Bildern aus Ka-
und wirkungsinten- lifornien, wird aber
ein regelrechter Hype
sivste Bewegung in losgetreten. Mit der
der Fotografie. «
Folge, dass immer
mehr Menschen nicht
etwa an Mohnbildern interessiert sind,
sondern primär daran, Teil dieser „Fotos-
von-diesem-Mohnfeld-Gemeinde“ zu sein.
Es geht um ein „Dabeisein“ bei einem auf-
merksamkeitsstarken „Projekt“, die Befrie-
digung der Sehnsucht der Menschen nach
einer sich wie auch immer definierenden
Community. Einer „Bewegung“.
So weit, so gut, aber das Phänomen geht
weiter: Nach Tagen, Wochen oder Monaten
sind durch die Selbst-Anheizung des je-
weiligen Motiv-Hypes dermaßen viele Bil-
der gleichen Inhalts auf Instagram gestellt,
dass neue Bilder ähnlichen Inhalts prak-
tisch keine Reaktionen mehr auslösen,
geschweige denn neue Varianten des Mo-
tivs zeigen. Die Folge: Das vornehmliche
„Dabeisein“ bringt nichts mehr, da keiner
mehr zuschaut. Das Motiv ist im wahrsten
Sinne des Wortes leergeknipst. Das kann
allerdings, wie im Fall von Venedig, Jahre
dauern, immerhin wollen noch viele
Millionen Fernost-Asiaten und Kreuzfahrt-
Ritter durch die engen Gassen getrieben
werden. Meistens jedoch ziehen die Knip-
ser-Schwärme weiter, fotografieren hier
etwas oder dort und hoffen darauf, mal
selbst einen neuen Hype auszulösen, von
dem die anderen Knipser schwärmen. Da-
rüber mag der ein oder andere den Kopf
schütteln, doch Tatsache ist: Das Phäno-
men ist, von der Bildseite her gesehen, die
aktuell stärkste und wirkungsintensivste
Bewegung in der Fotografie. Es könnte
eine Sackgasse sein und sie wird wahr-
scheinlich auch entsprechende fotografi-
sche Gegenbewegungen auslösen. Aber
sie ist definitiv der globalste, stärkste und
aktuellste Trend in der Fotografie.
Viel Spaß beim Lesen & Fotografieren!