PhotoWeekly 27.03.2019 | Page 2

Aktuell EDITORIAL 02 Wolfgang Heinen & Florian Schuster, Herausgeber Wenn Knipserschwärme vom Knipsen schwärmen Selfie-Alarm in Kalifornien: Zur rekord- verdächtig prächtigen Mohnblüte in Ka- lifornien pilgern zehntausende Instagram- Jünger. Bewaffnet mit Smartphone und Sel- fiestick hinterlassen sie ein zertrampeltes Schlachtfeld. Dieses aktuellste Beispiel offenbart ein Phänomen fotografischer Selbstzerstörung. Gib einfach mal den Hashtag #superbloom bei Google ein: Es öffnen sich viele hunderttausend orange- farbener Bilder, die derzeit anlässlich der ungewöhnlich üppi- » Es kommen immer gen Blüte des Gold- mohns südöstlich mehr Menschen, von Los Angeles von um mit immer mehr zehntausenden von Menschen aufgenom- Smartphones im- men und ins Netz ge- mer mehr Fotos zu stellt werden. Mit dra- matischen Folgen: Es machen. « kommen immer mehr Menschen, um mit immer mehr Smartphones immer mehr Fo- tos zu machen, die immer mehr Menschen anlocken ... und so weiter. Bis alles zertram- pelt ist und/oder die Blüte sich durch natür- liches Verblühen erledigt hat. Der Bürger- meister von Lake Elsinore, einer Kleinstadt direkt am Mohnfeld, hat den Notstand aus- gerufen. Und damit wird mal wieder klar: Instagram verändert Orte auf der ganzen Welt – meistens nicht zum Guten. Die Rue Cremieux in Paris, der Pragser Wildsee, der berühmte Felsvorsprung Trolltunga in Nor- wegen oder Venedig als Ganzes: Die foto- basierte Plattform lockt Selfieonados wie frisches Fleisch die blutlüsternen Piranhas. Was bleibt, sind, um im Bild zu bleiben, ab- geknabberte, blanke Knochen. Wenn Knipserschwärme vom Knipsen schwärmen, dann tritt ein ganz besonderes Phänomen zu Tage: Man nehme ein im wei- testen Wortsinn „schönes“ Motiv, mache ein paar Bilder und stelle » Das Phänomen sie auf Instagram. Ok, in den meisten Fällen ist, von der Bildsei- passiert nicht viel, in te her gesehen, die dem ein oder anderen Fall, wie jetzt mit den aktuell stärkste Mohn-Bildern aus Ka- und wirkungsinten- lifornien, wird aber ein regelrechter Hype sivste Bewegung in losgetreten. Mit der der Fotografie. « Folge, dass immer mehr Menschen nicht etwa an Mohnbildern interessiert sind, sondern primär daran, Teil dieser „Fotos- von-diesem-Mohnfeld-Gemeinde“ zu sein. Es geht um ein „Dabeisein“ bei einem auf- merksamkeitsstarken „Projekt“, die Befrie- digung der Sehnsucht der Menschen nach einer sich wie auch immer definierenden Community. Einer „Bewegung“. So weit, so gut, aber das Phänomen geht weiter: Nach Tagen, Wochen oder Monaten sind durch die Selbst-Anheizung des je- weiligen Motiv-Hypes dermaßen viele Bil- der gleichen Inhalts auf Instagram gestellt, dass neue Bilder ähnlichen Inhalts prak- tisch keine Reaktionen mehr auslösen, geschweige denn neue Varianten des Mo- tivs zeigen. Die Folge: Das vornehmliche „Dabeisein“ bringt nichts mehr, da keiner mehr zuschaut. Das Motiv ist im wahrsten Sinne des Wortes leergeknipst. Das kann allerdings, wie im Fall von Venedig, Jahre dauern, immerhin wollen noch viele Millionen Fernost-Asiaten und Kreuzfahrt- Ritter durch die engen Gassen getrieben werden. Meistens jedoch ziehen die Knip- ser-Schwärme weiter, fotografieren hier etwas oder dort und hoffen darauf, mal selbst einen neuen Hype auszulösen, von dem die anderen Knipser schwärmen. Da- rüber mag der ein oder andere den Kopf schütteln, doch Tatsache ist: Das Phäno- men ist, von der Bildseite her gesehen, die aktuell stärkste und wirkungsintensivste Bewegung in der Fotografie. Es könnte eine Sackgasse sein und sie wird wahr- scheinlich auch entsprechende fotografi- sche Gegenbewegungen auslösen. Aber sie ist definitiv der globalste, stärkste und aktuellste Trend in der Fotografie. Viel Spaß beim Lesen & Fotografieren!