Interview
JÖRG NICHT
29
„Man sollte ein
Thema für sich
definieren und
das dann auch
präsentieren!“
Jörg Nicht
Jörg Nicht ist mit über 500.000 Followern
einer der erfolgreichsten deutschen Fotografen
auf Instagram. PhotoWeekly sprach mit ihm über
den Fluch und Segen von sozialen Medien und die
wichtigsten der Aspekte der Streetfotografie.
Interview: Linda Schröder
Jörg, du bist promovierter
Sozialwissenschaftler. Wie
kamst du zur Fotografie?
Schon als Kind haben mich Fotos
fasziniert – in Fotoalben und in
alten Fotozeitschriften. So ent
Zur Person:
stand der Wunsch, selbst solche
Jörg Nicht (*1973)
Fotos zu machen. Mit 12 Jah
studierte Erzie-
ren bekam ich meine erste ei
hungs- und Sozial-
wissenschaften an
gene Kamera. Mit 16 kaufte ich
der HU Berlin und
mir eine einfache Spiegelreflex
promovierte dort
kamera und begann, meine Fo
auch. Er lebt seit
24 Jahren in der
tos in der Dunkelkammer selbst
Bundeshauptstadt
zu entwickeln. Nach dem Abitur
und ist seit 2016
entschloss ich mich Sozialwis
professioneller
Fotograf.
senschaften zu studieren, die Fo
joergnicht.com
tografie blieb aber immer eine
instagram.com/jn
wichtige Beschäftigung von mir.
Zur Profifotografie kam ich dann
letztlich durch Instagram, weil ich dort zunächst
meine Alltagsbeobachtungen zeigen konnte, die
schließlich ein breiteres Publikum fanden. Über die
sen Weg sind dann auch Unternehmen und Agentu
ren auf mich aufmerksam geworden.
Jörg Nicht beweist ein tolles Auge für Alltägliches
Street Photography lebt zu einem großen Teil von
den Menschen, die fotografiert werden. Was war
das einschneidenste „Motiv“ vor deiner Linse?
Solche Motive sind für mich meist diejenigen, die
ich nicht fotografiere, weil ich sie zu spät entde
cke oder aus anderen Gründen nicht fotografieren
kann. Darüber ärgere ich mich dann nachher. So
lief ich vor kurzem durch Kampala, der Hauptstadt
Ugandas, und sah einen jungen Mann vor einer rot
gestrichenen Wand sitzen. Er beobachtete mich mit
ernster Miene. Als ich
„Wenn ich auf
ihn aber grüßte, grüßte
er lächelnd zurück. Weil
Motivsuche bin,
ich schon lange unter
habe ich meist ein wegs war, wollte ich zu
rück ins Hotel. Seine Ge
Thema oder eine
schichte werde ich wohl
Route im Kopf.“
nie erfahren.
Wie entstehen deine Bilder? Hast du ein „Konzept“
vor Augen oder entstehen die meisten Aufnahmen
ungeplant?
Aufgrund meines sozialwissenschaftlichen Hinter
grundes kann ich einen gewissen konzeptionellen
Blick nicht leugnen. So versuche ich Städte zu ord
nen: Wie verhalten sich die Menschen? Wird in der
Öffentlichkeit geraucht? Unterhält man sich in der
U-Bahn? Geht man bei Rot über die Kreuzung? Was
ist das Typische eines Ortes? Aus solcherart Beob
achtungen entwickle ich ein Bild, was ich auch zei
gen möchte. In Prag habe ich mich beispielsweise
an dem modernen Operngebäude abgearbeitet und
zunächst keinen fotografischen Zugang gefunden.
Am nächsten Tag sah ich, dass die Straßenbahnen,
die jeder kennt, der einmal in Prag war, vor der Oper
entlangfahren. Mit ihrer Hilfe konnte ich die Oper in
Prag verorten. Allerdings kommt es immer wieder
vor, dass ich Bilder mache, die aus dem Augenblick
entstehen und in gewissem Sinne ungeplant sind.
Ruhige Motive, bewusst komponiert – und manchmal spontan
Equipment ist das A&O. Was darf in deiner Kamera-
tasche nicht fehlen?
Für einen Stadtspaziergang nehme ich s o wenig
wie möglich mit: In meinen kompakten Tagesruck
sack kommt meine Panasonic Lumix G9 mit einem
leichten Weitwinkelobjektiv. Außerdem nehme ich
ein Telezoom mit, ein Ersatzakku und ein kleines
Stativ von Manfrotto, das eigentlich für Smartpho
nes gebaut ist, aber eine Lumix noch stabil trägt.
Viele Fotografen sehen die sozialen Medien eher
als Fluch denn Segen. Du warst ein früher Befür-
worter. Warum?
Am Anfang, also 2010, nutzte ich Instagram, um mit
Freunden Fotos auszutauschen, die wir mit unseren
Smartphones gemacht hatten. Schnell bemerkte
ich, dass es spannende Fotos auf Instagram zu ent
decken gab. Street Photography aus Tokio oder New
York konnte ich dort finden. Und fast alle mach
ten die Fotos mit einem iPhone. Die Technik spielte
eine nachgeordnete Rolle, denn alle hatten die glei
chen Geräte. Hinzu kam, dass es Alltagsbeobach
tungen waren – Fotos von unterwegs. Das kam mir
entgegen, weil ich einige Jahre zuvor ein ähnliches
Projekt gemacht hatte: Langzeitbeobachtungen des
städtischen Alltags. Und schließlich war Instagram
eine Möglichkeit, sich zu vernetzen und auch tat
sächlich zu treffen. Ein Instagrammer aus Chicago,
den ich neulich dort traf, erzählte mir, dass er mei
nem Account als einem der ersten gefolgt sei. Und
jetzt haben wir gemeinsam Kaffee getrunken.
Was sind die wichtigsten Eigenschaften, die ein
Fotograf auf Instagram mitbringen muss?
Neben Durchhaltevermögen ist aus meiner Sicht
wichtig, dass man ein Thema für sich definiert
und das dann auch präsentiert. Außerdem sollte
man der Spezifik des Mediums (kleiner Bildschirm,
Hochformat) Rechnung tragen können und entspre
chende Bilder machen, die funktionieren. Ich sehe
oft Fotografen, die ihr Portfolio eins zu eins auf Ins
tagram präsentieren. Die Bildsprache auf Instagram
ist zum Teil anders und das Publikum möchte nur
begrenzt Bilder sehen, die eigentlich für ein anderes
Medium gemacht wurden.